Nobelpreise 2016: Die Maschinen der Zukunft sind unsichtbar
Ben Feringa hat das Rad neu erfunden. Im Jahr 2011 präsentierte der Chemiker von der Universität Groningen ein nur wenige Nanometer großes "Auto", das aus einem einzelnen Molekül bestand. Angetrieben von Stromstößen aus einem Rastertunnelmikroskop rollte es auf vier molekularen "Rädern" über eine Metalloberfläche. Das Konstrukt mag wie eine Spielerei anmuten, aber es markiert in den Augen vieler Fachleute eine technische Zeitenwende ähnlich jener durch die Erfindung der ersten Computer: den Beginn der Ära molekularer Maschinen.
Lange musste sich die Chemie darauf beschränken, Moleküle mit bestimmten, festgelegten Strukturen herzustellen. Erst in den 1990er Jahren erschufen Forscher nanometergroße Strukturen, die sich auf Kommando in bestimmter Weise bewegten. Wie Maschinen eben – molekulare Maschinen.
"Wenn man Bewegung kontrollieren kann, dann kann man alle Arten von dynamischen Maschinen bauen", erklärte Feringa anlässlich der Verleihung des Nobelpreises an ihn und seine Mitlaureaten Jean-Pierre Sauvage und J. Fraser Stoddart. Die Möglichkeiten seien endlos, so der Forscher – sie reichten von Nanorobotern, die Krebs bekämpfen, bis hin zu Materialien, die komplett aus winzigen Maschinen aufgebaut sind. Das Nanoauto allerdings zeigt vor allem, wie weit der Weg dorthin derzeit noch ist. Und nicht zuletzt ist unklar, wo er hinführt, technisch ebenso wie gesellschaftlich.
Einfache Maschinen auf Nanoebene
Mehr als ein Jahrzehnt zuvor schon hatte Feringa das Prinzip demonstriert, auf dem das Nanoauto basierte: Im Jahr 1999 entwickelte er ein unscheinbares Molekül aus zwei Dreiringen, die über eine Doppelbindung verbunden sind. Dessen revolutionäre Eigenschaften: Das Molekül ist so konstruiert, dass die beiden Dreiringe um die verbindende Doppelbindung rotieren, wenn man Energie zuführt – und zwar ausschließlich in eine Richtung. Feringas Maschine, die später in vierfacher Ausfertigung sein molekulares Auto antrieb, war der erste molekulare Motor von Menschenhand mit einer rotierenden Welle.
Feringa war nicht der Einzige, der in den 1990er Jahren an einfachen molekularen Maschinen arbeitete. Sauvage und Stoddart forschten zeitgleich an Konstruktionen, die auf einem völlig anderen Prinzip basierten – der topologischen Verstrickung von Molekülen. Das klingt kompliziert, bedeutet aber nur, dass ein Molekül so durch ein zweites, ringförmiges Molekül gesteckt wird, dass sich beide nicht voneinander lösen können. Zum Beispiel zwei ineinander verschlungene Ringe. Diese Konfiguration ist so naheliegend, dass Chemikerinnen und Chemiker sich schon vor Jahrzehnten an ihr versuchten.
Doch erst der zweite Laureat von 2016, Jean-Pierre Sauvage von der Université de Strasbourg, fand einen brauchbaren Weg, diese so genannten Catenane herzustellen. Den Durchbruch brachte die Kombination von organischen Molekülen und Metallatomen in so genannten Komplexen. Metalle gehen mit vier oder gar sechs elektronenreichen Atomen wie Stickstoff oder Sauerstoff in den Molekülen Komplexbindungen ein und zwingen ihnen dabei eine präzise räumliche Anordnung auf. Sauvage nutzte einen Kupferkomplex, um ein bogenförmiges Molekül halb durch einen Ring zu fädeln und dort in der richtigen Position festzuhalten, bis er den Bogen zu einem zweiten Ring geschlossen hatte.
Ineinander verschlungene Moleküle
Auch J. Fraser Stoddart von der Northwestern University in Illinois verstrickte Moleküle topologisch, um gegeneinander bewegliche, aber doch aneinander gebundene Konstrukte zu erhalten. Allerdings ging er gleich zweifach anders vor als Sauvage. Zum einen brauchte er keine Metallatome – um seine Moleküle in Position zu halten, kombinierte er elektronenreiche und elektronenarme chemische Gruppen in den Molekülen, die sich dank ihrer entgegengesetzten Ladungen elektrostatisch anziehen. Zum anderen fädelte der US-Amerikaner stabförmige Moleküle durch Ringe und koppelte einfach zwei große Molekülteile an deren Enden, so dass der Ring nicht mehr herunterrutschen konnte.
Die ineinander verschlungenen Moleküle von Stoddart und Sauvage erfüllten die zentrale Anforderung eine molekularen Maschine. Ihre Teile müssen zwar zusammenhängen, aber gleichzeitig gegeneinander beweglich sein. Doch das allein reicht noch nicht aus: Eine Maschine muss auch etwas tun – so wie der rotierende Motor von Feringa. Im Jahr 1994 gelang es dann beiden Wissenschaftlern unabhängig voneinander, ihre Molekülkonstrukte von außen in Bewegung zu versetzen.
Tatsächlich funktioniert die Bewegung beider Protomaschinen nach dem gleichen Prinzip: Je nachdem, ob man ihnen ein Elektron entzog oder wieder zuführte – sie oxidierte oder reduzierte –, wechselten sie vorhersagbar immer wieder zwischen zwei möglichen Orientierungen zueinander. Stoddarts als Rotaxan bezeichnete Stab-Ring-Kombination enthielt zwei eingebaute chemische Bausteine, die den umgebenden Ring je nach Zustand mal stärker, mal schwächer banden. Dieser glitt darum zwischen beiden Positionen hin und her, sobald Stoddarts Team die Elektronen fließen ließ. Auf Stoddarts schaltbaren Rotaxanen basieren heute die meisten molekularen Maschinen.
Sauvages Catenan dagegen enthielt einen Ring, der in zwei Positionen einen Komplex mit dem zentralen Kupferatom bildete. Eine dieser funktionellen Gruppen jedoch bevorzugt einfach positiv geladenes Kupfer, die andere bindet das Metall erst, wenn es ein weiteres Elektron verliert. Auch hier wechselten die verschlungenen Moleküle die Orientierung zueinander, sobald ein Elektron abgezogen oder zugeführt wurde.
Von einfachen zu komplizierten Maschinen
Stoddart, Sauvage und ihre Kolleginnen und Kollegen aus der topologischen Chemie waren seit diesen schlichten Anfängen nicht untätig. Die verschlungenen Moleküle sind chemisch immer komplexer geworden und nähern sich immer mehr wirklichen molekularen Maschinen an – und manchmal auch der Natur. Neben sehr komplizierten Strukturen wie einem molekularen Fahrstuhl präsentierte Sauvage eine Doppelstruktur, die sich auf chemische Reize hin um zwei Nanometer zusammenzieht und wieder entspannt – wie Muskelfasern. Feringa wiederum demonstrierte 2006, wie Nanomotoren einen zehntausendfach größeren Glasstab zur Rotation bringen können.
Die Vielfalt der Motoren nimmt heute beständig zu, denn die drei mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Forscher haben nicht nur molekulare Maschinen gebaut, sondern die Grundprinzipien hinter ihrer Konstruktion entschlüsselt. Inzwischen gibt es schaltbare Katalysatoren, molekulare Fließbänder und molekulare Pumpen, die auf den Arbeiten der Laureaten basieren. Der Kreativität scheinen keine Grenzen gesetzt.
Ungeachtet dieser Erfolge – oder gar ihretwegen – werden einige Fachleute ungeduldig, nicht zuletzt Feringa selbst, der fürchtet, die Community könnte sich verzetteln: "Inzwischen wurden 50 oder 60 verschiedene Motoren entwickelt", erklärte er 2015 gegenüber "Nature". "Jetzt sollten wir über ihren Einsatz nachdenken, anstatt immer neue zu konstruieren." Molekulare Maschinen praktisch zu nutzen, gestaltet sich allerdings nach wie vor schwierig.
Zum einen ist die Frage nach dem geeigneten Antrieb noch nicht so recht geklärt. Feringas Auto jedenfalls fuhr nur mit Hilfe eines Rastertunnelmikroskops, eine 2006 von ihm konstruierte Maschine brauchte Licht und ein Flüssigkristallbad. Andere Maschinen müssen ständig hin- und her geschaltet werden, was bei vielen Anwendungen, speziell im Körper, schnell unpraktisch wird.
Auch die Fragen werden komplizierter
Zum anderen ist noch weniger klar, wie man molekulare Maschinen überhaupt dazu bringt, irgendetwas Sinnvolles zu tun. Die Konstruktionen sind so klein, dass sich Tausende, Millionen von ihnen koordiniert zusammenschließen müssen, um zu Beispiel eine Krebszelle zu töten oder auch nur ein Gramm eines neuen dynamischen Werkstoffs zu sein. Wie steuert man eine Nanomaschine? Wie eine Million von ihnen?
Das Nobelkomitee gibt sich da optimistisch. Die drei Wissenschaftler hätten das Feld auf einen Stand gebracht, der dem Bau von Motoren in den 1830er Jahren entspreche, hieß es zur Verleihung. Damals seien die technischen Geräte noch eher eine Kuriosität gewesen, über die revolutionierende Kraft ihrer Anwendungen sei man sich seinerzeit kaum bewusst gewesen.
Auch Neu-Nobelpreisträger Ben Feringa lässt sich von den vielen offenen Fragen die Laune nicht verderben, im Gegenteil: "Wir stehen jetzt vor der gleichen Herausforderung wie die Gebrüder Wright, nachdem sie das erste Mal erfolgreich geflogen sind. Man hat sie gefragt: 'Wozu brauchen wir so eine Flugmaschine?' – und heute sitzen wir in einer 747 oder einem Airbus."
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